Die große Angst
August 2017
Wenn ich in letzter Zeit Uiguren treffe, sprechen sie von Angst.
Sie können es kaum fassen, was in ihrer Heimat geschieht. Seit vielen Jahren schon werden die Uiguren in Xinjiang benachteiligt, überwacht, verdächtigt. Dass es noch schlimmer werden konnte,
hätte kaum jemand gedacht, doch nun fallen immer häufiger die Worte „Wie in der Kulturrevolution“.
Keiner von denen, mit denen ich gesprochen habe, ist politisch aktiv oder extrem religiös. Keiner von ihnen hat jemals an Widerstand gedacht. Sie lieben ihre Heimat, möchten in Frieden leben und eine Arbeit finden, aber jetzt wissen sie nicht mehr ein noch aus. Denn allein das Uigure-Sein ist schon gefährlich.
Sie trauen sich nicht, nach Hause zu fahren, weil ihnen dann der Pass weggenommen würde und sie nicht ihr Studium fortsetzen oder an ihre Arbeit zurückkehren könnten. Sie sorgen sich um ihre Eltern und Verwandten, die von der Polizei bedrängt werden. „Was macht Ihr Sohn im Ausland? Warum ist er dorthin oder dorthin geflogen? Zu welchem Zweck? Weshalb ist sie nach ihrem Studienabschluss noch nicht zurückgekommen?“ Wird es vielleicht eines Tages nicht nur bei Verhören bleiben? Jeder, der einen Reisepass beantragt oder einmal im Ausland gewesen ist, gilt grundsätzlich als verdächtig; ausgegebene Pässe wurden wieder eingezogen, so dass selbst Wissenschaftler nicht an internationalen Kongressen teilnehmen und ihre Universität vertreten können.
Parteisekretär Chen Quanguo hat die Verbote und Einschränkungen, die schon seit Jahren die uigurische Bevölkerung diskriminieren, seit dem letzten Jahr noch einmal deutlich verschärft. Aufgrund neuer Anti-Terror- und Anti-Islam-Gesetze kann die Polizei praktisch jeden festnehmen. Bespitzelung unter Freunden und Verwandten wird mit hohen Geldprämien belohnt. Jeder kann jeden anzeigen, denn nach Beweisen fragt niemand. Und wer einmal im Gefängnis ist, weiß nicht, ob er es jemals wieder verlassen kann. Immer wieder hört man von Personen, die nach der Festnahme spurlos verschwunden sind, ohne dass die Familie jemals erfährt, warum.
Die Polizei hält Uiguren auf der Straße an, um auf ihrem Smartphone nach Hinweisen auf religiöse oder politische Aktivitäten zu suchen. Sie kommen ins Haus, durchkämmen die Wohnung nach Büchern über uigurische Geschichte oder von uigurischen Autoren, nach einem nicht angemeldetem Koran, oder einem Messer, in das nicht die ID-Nummer des Besitzers eingraviert ist – große Messer wie in einer Restaurantküche oder beim Metzger müssen zusätzlich mit einer Kette an der Wand befestigt sein. Und am Ende der Hausdurchsuchung muss jeder auf einem Formular angeben, welcher Religion er anhängt. Kaum jemand wagt noch, Islam anzukreuzen – eine Entscheidung, die vielen schwer fällt, denn entweder muss er mit Repressalien rechnen oder mit einem schlechten Gewissen leben.
Obwohl die Verfassung ausdrücklich den Schutz der uigurischen Sprache und Kultur garantiert, ist Uigurisch fast vollständig aus dem gesamten Erziehungssystem verbannt. Kinder haben von klein auf an Chinesisch zu sprechen.
Die unzähligen Kontrollen und Einschränkungen beginnen auch die in Xinjiang lebenden Han-Chinesen nervös zu machen, weil sie ihre Geschäfte beeinträchtigen: aufwändige und teure Überwachungssysteme, Internet-Störungen, Touristen bleiben weg. Für die Uiguren kommt neben all diesen Ärgerlichkeiten hinzu: Angst. Angst aufzufallen, für nichts und wieder nichts von der Polizei festgenommen oder zur politischen Umerziehung geschickt zu werden. Angst um ihre Söhne und Töchter. Angst vor jedem Tag und vor der Zukunft. Studenten und Absolventen im Ausland, junge, hoffnungsvolle Menschen wagen sich nicht zurück und leben mit der Angst, ihre Heimat und ihre Familien für immer zu verlieren.
Was hat das für einen Sinn? Wieso kann ein Land wie China, das sich der Welt so gern als groß, mächtig, reich und erfolgreich darstellt, ein Land, das um jeden Preis sein „Gesicht wahren“ will, ein Land, das Freunde und Handelspartner in der westlichen Welt an sich binden und mit seinem Fortschritt beeindrucken will – wieso will solch ein mächtiges Land nicht das Potential aller seiner Bürger nutzen? Wieso gibt man den Uiguren nicht einfach die Rechte, die ihnen laut Verfassung zustehen, so dass sie an Fortschritt und Wohlstand teilhaben?
Nur weil es ein paar Extremisten gibt. Würde die Regierung jedoch ihre Arbeit gut machen und die gesamte Bevölkerung einbeziehen, dann hätten diese paar Extremisten keinen Zulauf. Dann wären sie wohl kaum eine Gefahr für einen so mächtigen Staat.
Was also ist der Grund für dieses Vorgehen? Mit menschlicher Vernunft und politischem oder wirtschaftlichem Weitblick kann es nichts zu tun haben. Mit Angst vielleicht?
Ingrid Widiarto
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